Dieter von Wichmann
In Memoriam
„Wenn man mit niemandem darüber sprechen kann oder, wenn das niemand versteht, trägt man das immer mit sich herum. Als ich das erste Mal hier [in der Gedenkstätte] war, ist das wie eine Erlösung gewesen eigentlich. Heute beruhigt es mich, wenn ich es [den Ort] noch einmal ablaufe.“
In einem frühen Interview aus dem Jahr 1997 spricht Dieter von Wichmann über sein Leben. Seine Stimme ist ruhig. Mit bedachten Worten gewährt er einen Einblick in seine Haftgeschichte – acht Jahre nach dem Fall der Mauer und mehr als drei Jahrzehnte nach seiner Verhaftung.
Dieter von Wichmann, geboren am 11. August 1938 in Bayreuth, arbeitete in der DDR als Tontechniker am Berliner Friedrichstadtpalast. Dort lernte er viele große Stars kennen: Chris Doerk und Frank Schöbel aus der DDR, aber auch Udo Jürgens und Katharina Valente aus dem westlichen Ausland. Doch mit dem Bau der Mauer verlor er zunehmend den Kontakt zu Kollegen und Stargästen aus dem Westen. Dem Zwang zu politischen Lippenbekenntnissen versuchte er zu entkommen. Am 23. Oktober 1963 verhaftete ihn der Staatssicherheitsdienst, weil er Kontakt zu professionellen Fluchthelfern aufgenommen hatte. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Diese Verbindungsaufnahme bedeutete für ihn zwei Jahre Haft.
In der Untersuchungshaft in Hohenschönhausen changierte sein Leben zwischen Selbstbehauptung und Angst vor dem Ungewissen. Erst viel später betonte Dieter von Wichmann, dass ihm diese Zeit körperlich und psychisch viel abverlangt, ihn aber gleichwohl stark und bis ins Alter resilient gemachte hatte. Nach seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren wegen "Republikflucht" durfte er nach seiner Inhaftierung im Gefängnis Berlin-Rummelsburg im Mai 1965 im Rahmen des Häftlingsfreikaufs in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Er absolvierte eine Ausbildung zum Theater- und Beleuchtungsmeister und blieb nach beruflichen Stationen am West-Berliner Schiller- und Schlossparktheater bis zu seiner Rente am ICC Berlin tätig.
Nach der Friedlichen Revolution gehörte Dieter von Wichmann zu den ehemaligen politischen Häftlingen, die die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit aufbauten. Es ist nicht zuletzt auch seinem großen Engagement zu verdanken, dass aus der zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt ein heute weltweit bekannter Ort des Gedenkens und des historisch-politischen Lernens geworden ist. Wir sind ihm sehr verbunden, dass wir seine Erinnerungen an die Haft in Hohenschönhausen in mehreren Zeitzeugeninterviews aufzeichnen durften.
Von 1999 bis 2017 vermittelte er als Zeitzeuge bei zahlreichen Rundgängen in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen den Besucherinnen und Besuchern nicht nur seine persönliche Haftbiografie, sondern darüber hinaus die unterschiedlichen Facetten von Repression, Widerstand und Opposition in der DDR. Auf einer großformatigen Fotografie, die ihn an seinem ehemaligen Haftort porträtiert, findet sich sein Credo: „Am 23. Oktober 1963 vor Angst gelähmt – heute stark, um durch dieses Haus zu führen.“
Seinen Ängsten und Gedanken wollte er nicht davonlaufen, sondern ihnen entgegentreten, sie immer wieder neu bezwingen mit Willensstärke, Entschlossenheit und Ausdauer. Dieter von Wichmann war ein Kämpfer und auch ein ehrgeiziger, begeisterter Marathonläufer - ein Mensch, der immer wieder über sich hinauswuchs und an seine Grenzen ging. Selbst als er keine Wettkämpfe mehr bestreiten konnte, blieb er als Helfer an der Marathonstrecke noch lange aktiv und schöpfte innere Ruhe und neue Kraft aus dem Sport.
Viele Kolleginnen und Kollegen sahen und sehen in ihm ein Vorbild.
Es hat ihm sehr viel bedeutet, als er am 14. November 2006 den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler und seine Frau durch die Gedenkstätte führen und beiden verdeutlichen konnte, welch großer Stellenwert den ehemaligen politischen Häftlingen bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur zukommt. Als Zeitzeuge engagierte sich Dieter von Wichmann auch im Koordinierenden Zeitzeugenbüro. Der stetige Austausch mit interessierten Menschen und im Besonderen mit Jugendlichen war für ihn bereichernd. Auch um immer wieder seine eigene Geschichte zu reflektieren und aufarbeiten zu können. Er verabschiedete seine Gruppen stets mit einem freundlichen, wenn auch mahnenden „Seid gute Demokraten. Tschüss.“
Einen der bewegendsten Höhepunkte seines Wirkens gegen die Beschönigung der SED-Herrschaft erlebte Dieter von Wichmann auf der Bühne: Im Doku-Theaterstück „Staats-Sicherheiten“ berichtet er eindringlich – gemeinsam mit 15 anderen ehemaligen Stasihäftlingen aus Hohenschönhausen und der Potsdamer Lindenstraße – von traumatischen Erlebnissen, von seiner Verhaftung und den Verhören – aber auch von den Überlebensstrategien. Mit großem Erfolg wurde das Stück ab 2008 mehrfach unter anderem im Hans-Otto-Theater Potsdam und im Maxim-Gorki-Theater Berlin aufgeführt. Damit leistete Dieter von Wichmann einen wichtigen Beitrag, um die Erinnerung an die Opfer der menschenverachtenden sozialistischen Diktatur wachzuhalten.
Zuletzt zog sich Dieter von Wichmann gesundheitsbedingt zurück. Nun er ist am 24.Oktober 2023 nach schwerer Krankheit verstorben. Er hinterlässt seine Frau und einen Sohn. Aber auch uns. Er fehlt sehr. Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hochgeschätzt, verabschieden wir uns von unserem Zeitzeugen Dieter von Wichmann. Wir werden immer an ihn als einen besonderen Menschen zurückdenken – und an seine Fähigkeit, sich seinen Ängsten zu stellen. Er lehrte uns, dass Mut nicht nur bedeutet, keine Angst zu haben, sondern vielmehr, trotz der Angst voranzuschreiten. Seine leise, freundliche Stimme und seine klaren Botschaften werden noch lange nachklingen und uns begleiten